Nimm dir Zeit für ein Märchen...

Die vier Winde

Es war einmal eine Mutter, die hatte vier Söhne, diese wuchsen gesund heran und führten ein fröhliches und sorgenfreies Leben.

Eines Tages rief die Mutter sie zu sich und sprach: „Meine lieben Söhne, ihr seid jetzt erwachsen und reif genug, um in die Welt zu ziehen. Bitte macht euch noch heute auf den Weg, euer Glück zu suchen!“  „Aber wir sind doch hier bei dir ganz glücklich!“ sagte der Älteste. Doch die Mutter entgegnete: „Ihr Lieben, das Leben hält für jeden von euch ein ganz besonderes Geschenk bereit, versucht, es zu finden! Und kehrt nach einem Jahr zurück, um von euren Erlebnissen zu berichten.“ Da half keine Widerrede, die Jungen packten ihre sieben Sachen und machten sich auf den Weg. Der älteste ging nach Süden, der zweite nach Westen, der dritte nach Norden und der vierte nach Osten.

 

Als der älteste Sohn eine lange Zeit gewandert war, kam er an ein großes Meer. Er setzte sich am Strand nieder und betrachtete die Wellen. Das Kommen und Gehen. Ebbe und Flut. Tagein, tagaus. Er betrachtete es viele Tage, viele Wochen, viele Monate lang. Und immer wieder dachte er: „Wie kann ich nur alles loslassen, was mich an die Vergangenheit bindet?“ Da sprang auf einmal ein kleiner Wassermann aus dem Meer heraus, umklammerte einen großen Felsen und jammerte: „Was kann ich nur tun, damit dieser Fels mich loslässt?“ Sie sahen sich an und lachten beide aus ganzem Herzen. Der Junge hatte verstanden und die beiden wurden gute Freunde.

 

Der zweite Sohn kam indessen auf seiner Wanderung in einen großen, dicken Wald. Der Wald wurde immer dichter und undurchdringlicher, und die Geräusche und Schatten immer unheimlicher. Bald hatte der Jüngling jeden Weg verloren und begann sich zu fürchten. Es dämmerte und er tastete sich ängstlich weiter. Da ließ ihn ein fürchterliches Gebrüll zusammenschrecken, er lief zum nächsten Baum und umklammerte ihn ängstlich. „Hallo du!“, raunte eine tiefe Stimme. „Wer bist du?“, fragte der Junge ängstlich. „Ich bin der Geist dieses Baumes. Hab keine Angst! Auch du bist tief mit Mutter Erde und Vater Sonne verbunden, kannst du meine Kraft und Ruhe spüren?“ Da spürte der Junge, wie sich auch in ihm die Kraft und der Ruhe des Baumes ausbreitete, er beruhigte sich und ließ sich erschöpft im Schutze des Baumes nieder.

Doch da erscholl wieder dieses fürchterliche Gebrüll und der Junge klammerte sich erneut an den Baum, schloss seine Augen und zitterte wie Espenlaub. Er spürte, wie sich etwas Großes und Dunkles näherte und kniff seine Augen noch fester zu. „Aaaah!“, schrie der Junge, denn eine große feuchte Schnauze hatte ihn an gestupst. „Sei gegrüßt, edler Baumgeist!“, sagte eine fremde Stimme. „Sei gegrüßt, edler Jaguar!“, antwortete der Baumgeist. Da öffnete der Junge vorsichtig die Augen und sah einen mächtigen schwarzen Jaguar vor sich stehen. „Was für ein schönes Menschenwesen haben wir hier zu Gast!“, sagte er mit sanfter Stimme und stupste den Jungen erneut freundlich an. „Mein lieber Junge, fürchte dich nicht vor deinen eigenen Schatten, sondern sieh sie dir mit offenem Herzen einfach an. So wirst du nie wieder Furcht empfinden.“ Und so geschah es dann auch.

 

Der dritte Sohn war tapfer gen Norden gewandert und es wurde kälter und kälter. Die Gegend war rau und unwegsam, auch fror er und hatte nichts mehr zu essen. Da stiegen in ihm quälende Gedanken hoch: „Wo finde ich Nahrung, wo einen Unterschlupf für die Nacht?“ Da platzte ein lautes Geheule mitten in seine Gedanken: Wölfe! Auch das noch! Oh nein! „So werde ich heute entweder Hungers sterben, erfrieren oder die Wölfe werden mich zerreißen!“ Mühsam und verzweifelt schleppte er sich weiter, da stolperte er und lag auf der Nase. Und er wollte und konnte auch gar nicht mehr aufstehen.

„Hallo, du!“, tönte es in seiner Nähe. „Wer spricht da? fragte der Junge erstaunt. „Ich bin der Stein, über den du gestolpert bist.“ „Und was willst du von mir?“ fragte der Junge. „Dir helfen.“ „Mir helfen? Aber wie könntest du mir helfen? Hunger und Kälte haben mich entkräftet und die Wölfe werden jeden Moment da sein und mich zerreißen!“ stöhnte der Junge.

„Nun ja“, meinte der Stein. Du könntest dich tarnen. Werde zu Stein, so wie ich.“ „Aber wie soll ich das machen?“, hauchte der Junge. „Es ist ganz einfach. Öffne dein Herz. Ganz weit. Und nun verbinde dein Herz mit dem meinen!“ Der Junge tat es ohne nachzudenken. Und er spürte den Stein mit seinem ganzen pochenden Herzen. Seine Kraft. Seine Ruhe. Seine Zeitlosigkeit. Sein in sich geschützt und zu Hause sein. Da wurde auch er ganz ruhig. Er fror nicht mehr und empfand keinen Hunger. Er fühlte sich wohlig warm und geschützt. Voller Vertrauen rollte er sich zusammen und wurde bewegungslos und zeitlos, so schlief er ein. Und wurde zu Stein.

Die Wölfe kamen und sprangen über die Steine hinweg, laut heulend, die Menschenspur vergeblich suchend.

Erst als die Sonne am nächsten Tag schon sehr hoch stand, erwachte der Junge und bedankte sich tief berührt beim Stein. „Du hast mir das Leben gerettet. Oh, wie gerne wäre ich immer so gegenwärtig wie du, lieber Stein, so ganz im Hier und Jetzt!“ „Oh, das ist ganz einfach, liebes Menschenwesen“, antwortete der Stein. „Wirf deine Gedanken wie Herbstblätter in einen Fluss. Sieh zu, wie sie hineinfallen und davon schwimmen. Und dann vergiss sie. Und du wirst immer im Hier und Jetzt sein. Leb wohl, du liebes Menschenkind. Und grüße all meine Brüder und Schwestern, denen du noch begegnen wirst!“

 

Und wie erging es dem vierten Bruder? Der war nach langer Wanderung zu einem großen Gebirge gekommen. Da hüpfte sein Herz voller Freude, denn er liebte die Berge und das Klettern. Und schon stieg er nach oben, leichtfüßig und behände wie eine Bergziege. Er kletterte immer weiter hinauf, nur noch einen großen Felsvorsprung hinauf, dann wollte er sich ausruhen. Doch was sah er da! Zwei große Adler standen neben ihm, es war ein Pärchen. Und das Adlermännchen sprach: „Na endlich, wir haben schon auf dich gewartet!“ „Auf mich gewartet?“ erwiderte der Junge verwirrt. „Ja natürlich. Wir müssen jetzt los, um unseren Auftrag zu erfüllen. Bitte achte gut auf unsere drei Jungen.“ Voller Erstaunen sah der Junge das große Adlernest mit drei piepsenden Jungvögeln neben sich. „Wir haben genug Futter ins Nest gelegt, keine Sorge du musst nicht jagen gehen!“ sagte der stolze Adler noch und schon erhob er sich mit seiner Gefährtin in die Lüfte und weg waren sie. Der Junge kroch in das Adlernest und fütterte die Jungen, den ganzen Tag und fast die ganze Nacht. Dann schlief er erschöpft ein.

Als die Adlereltern zum Sonnenaufgang heimkehrten, fanden sie ihre Jungen zufrieden und wohlbehütet vor. Da sprach der Adlervater. „Zum Dank für deinen guten Dienst, den du uns erwiesen hast, möchten wir dir einen Wunsch erfüllen.“ Da sagte der Junge schüchtern: „Ich bin auf der Suche nach meiner Bestimmung, wie kann ich sie nur finden?“ „Nichts leichter als das“, antwortete der Adler. „Jedes Menschenwesen trägt einen Adler im Herzen, die meisten haben es wohl vergessen. Erwecke die Adlerkraft in deinem Herzen und sie wird dir den Weg zu deiner Bestimmung zeigen!“ Der Junge schloss die Augen und schon spürte er, wie sich ein junger prachtvoller Adler in seinem Herzen zu regen begann, er öffnete seine Augen und wusste, dass sein Herzenshüter ihm alle Berge und Täler zeigen wird, von denen er bisher nur geträumt hatte.

 

So war nun ein Jahr vergangen.

Die Mutter legte ein festliches Gewand an, trat vor die Türe und erwartete ihre Söhne. Die kamen auch einer nach dem anderen, alle begrüßten und umarmten sich herzlich. „Und wie ist es euch ergangen, meine lieben Söhne?“ fragte sie. Da antworteten sie wie aus einem Munde: „Wir wissen jetzt, wir sind grenzenlose Liebe.

Wir sind strahlendes Licht! Wir sind der Fluss ewigen Lebens und wir sind göttlicher Glanz, Schönheit und Wahrheit!“

Die Mutter war sehr zufrieden, segnete ihre Söhne und sprach: „Nun habt ihr eure Bestimmung und euer Glück gefunden als Hüter der Winde des Südens, des Westens, des Nordens und des Ostens. So sei es!“

 

Carmen Sand, Oktober 2016 in Vilnöss, Südtirol.

 

Die Blume der Ehrlichkeit – eine indianische Geschichte

 

Zu einer Zeit, die einst war, nun für immer vorbei ist und bald schon wiederkehrt, lebte ein junger Häuptlingssohn, dem war der Vater gestorben.

So wurde der Junge zum neuen Häuptling geweiht. Da sprachen die weisen Alten zu ihm: „Es wäre gut, wenn du dir eine kluge und ehrliche Frau nimmst, die dich in Zukunft unterstützen kann.“

„Ja, das ist ein guter Rat!“ sagte der junge Mann. „Doch wie kann ich nur herausfinden, welche es auch wirklich ehrlich meint?“ dachte er bei sich. Denn es gab viele schöne junge Mädchen im Dorf und jede wollte natürlich gerne die Frau des neuen Häuptlings werden.

Da beriet er sich mit seiner Mutter und ließ am nächsten Tag alle jungen Mädchen zusammenrufen.

Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile in alle Wigwams, so erfuhr auch ein stilles schüchternes Mädchen davon, das den Häuptlingssohn schon lange heimlich lebte. Auch sie schmückte sich und bereitete sich auf das Treffen vor. Als ihre Mutter dies bemerkte, sprach sie: „Meine Tochter, was willst du dort? Nur die schönsten und reichsten Mädchen der ganzen Gegend werden anwesend sein. Schlag dir diesen unsinnigen Gedanken aus dem Kopf! Ich weiß, wie sehr du leidest, aber lass dieses Leiden nicht zur Verrücktheit werden.“ Die Tochter antwortete: „Liebe Mutter, ich leide überhaupt nicht, und verrückt werde ich noch viel weniger. Ich weiß, dass die Wahl niemals auf mich fallen wird, aber so kann ich zumindest ein paar Augenblicke dem Häuptlingssohn nahe sein, den ich liebe, und das macht mich glücklich.

Auch wenn ich weiß, dass mein Schicksal ein anderes sein wird.“

 

Als die stille junge Frau am Abend zum Treffpunkt kam, waren dort tatsächlich die schönsten Mädchen in ihren kostbarsten Kleidern, geschmückt mit prachtvollen Federn, Türkisen und Korallen, bereit, für die Gelegenheit zu kämpfen, die sich ihnen bot. Nun verkündete der Häuptlingssohn, was den Wettstreit ausmachen würde:

„Ich werde jeder von euch ein Samenkorn geben. Diejenige, die mir in sechs Monden die schönste Blume bringt, wird die zukünftige Frau des Häuptlings sein.“                                                                                                                             Die junge Frau nahm ihr Samenkorn, pflanzte es in einen Steintopf und hegte es voll Geduld und Zärtlichkeit im Glauben, die Schönheit der Blume werde der Größe ihrer Liebe entsprechen. Drei Monde vergingen und nichts keimte. Das junge Mädchen versuchte alles, doch nichts führte zum Erfolg. Ihre Liebe war indes so lebendig wie eh und je. Schließlich waren sechs Monde vergangen und nichts war in ihrem Blumentopf gewachsen. Obwohl sie nichts vorzuweisen hatte, war ihr bewusst, wie groß ihre Bemühungen in dieser ganzen Zeit gewesen waren, und sie teilte ihrer Mutter mit, dass sie sich zu der vorgegebenen Stunde zum Häuptlingssohn begeben würde, um ihn noch einmal sehen zu können.

So erschien das Mädchen mit ihrem Blumentopf ohne Pflanze und sah, dass die anderen Bewerberinnen großartige Ergebnisse erzielt hatten. Jede hatte eine Blume, und eine war schöner als die andere. Dann nahte der entscheidende Augenblick. Der junge Häuptling sah eine Bewerberin nach der anderen eindringlich an. Anschließend verkündete er das Ergebnis: er zeigte auf das junge schüchterne Mädchen als seine zukünftige Frau.

Da murrten die anderen Bewerberinnen und fragten, weshalb er denn ausgerechnet jene erwählt hatte, der es nicht gelungen war, eine Pflanze zu ziehen. Da erklärte der junge Häuptling ruhig den Grund seiner Wahl:

„Sie war die einzige, die eine Blume gezogen hat, die sie würdig macht, die künftige Häuptlingsfrau zu werden: die Blume der Ehrlichkeit. Alle Samen, die ich verteilt habe, waren unfruchtbar und konnten unmöglich Blumen hervorbringen.“

 

Frei nacherzählt nach einem alten Märchenmotiv von Carmen Sand, Anfang Januar 2017, Starnberg

 

 

„Der Salm der Weisheit“

 

Im alten Irland galt die Berufung zum Dichter als eine göttliche Gabe. Der Dichter vereinigte in sich die übernatürliche Seherkraft des Druiden und die Macht der Kreativität. Er hatte Zugang zu Geheimnissen, die der breiten Masse vorenthalten waren.

Im Fluss Slane in Irland lebte einst ein besonderer Lachs: der Salm der Weisheit.

Wer immer es schaffen würde, diesen Fisch zu fangen und zu verzehren, würde zum größten und berühmtesten Dichter Irlands werden; darüber hinaus würde er die Gabe des zweiten Gesichts erhalten.

Ein Dichter namens Fionn der Seher hatte den magischen Lachs schon sieben Jahre lang verfolgt. Ein zweiter Fionn, der junge Fionn Mac Cumhaill, suchte ihn auf und bat, von ihm als Lehrling aufgenommen zu werden. So geschah es denn auch.

 

Eines Tages kehrte Fionn der Seher endlich mit der ersehnten Beute vom Fluss zurück. Er zündete ein Feuer an, steckte den Lachs auf einen Spieß und fing an, ihn langsam und gleichmäßig zu drehen, damit er nicht ankohlte und seine Zauberkraft verlöre.

 

Nach einer Weile war das Feuer ziemlich weit heruntergebrannt und gab nicht mehr genügend Hitze ab, um den Lachs fertig zu garen. Fionn hätte neues Holz gebraucht, aber es war niemand da, den er danach hätte schicken können.

Glücklicherweise kam in dem Augenblick sein Lehrling, der junge Fionn, aus dem Wald, dem er den Fisch anvertraute. Also setzte sich Fionn Mac Cumhaill ans Feuer und fing seinerseits an, den Lachs über der Glut zu wenden; aber er war ein Träumer und so schweiften seine Gedanken bald von der eintönigen Tätigkeit ab. Als ihm nach einiger Zeit wieder einfiel, dass er den Spieß drehen musste, stellte er zu seinem Entsetzen fest, dass sich an der einen Seite des Fisches eine Blase gebildet hatte. Fionn der Seher würde ihm niemals verzeihen, dass er den Lachs verdorben hatte! Verzweifelt versuchte der Junge, die Blase mit seinem Daumen wieder flach zu drücken.

Dabei verbrannte er sich an der heißen Fischhaut, also steckte er den Daumen in den Mund, um den Schmerz zu lindern. An dem Daumen war aber ein wenig Lachsöl hängen geblieben; kaum war die Flüssigkeit mit seiner Zunge in Berührung gekommen, da wurden dem Jungen die drei magischen Gaben zuteil:

 

 

Weisheit, das zweite Gesicht und die Berufung zum Dichter.

 

Als Fionn der Seher mit dem Holz zurückkehrte, brauchte er seinem Lehrling nur einmal in die Augen zu sehen, um zu wissen, was geschehen war:

Das Glück, dem er so lange, so entschlossen und so unbeirrbar nachgestellt hatte, war ihm im letzten Moment entschlüpft und hatte sich einem unschuldigen jungen Mann verschenkt, der nicht einmal von so einem Geschenk zu träumen gewagt hatte.

 

Was für ein liebevoller Aufruf, uns nicht nur auf unseren linear denkenden und planenden Verstand zu konzentrieren. Es lebe der gewundene Pfad der Phantasie, der Risikobereitschaft und der Offenheit! So können wir die Früchte der Kreativität, der Schönheit und des Geistes empfangen.

 

Landshut, Januar 2017                                                                                                                                          Frei nacherzählt nach einer alten Keltischen Sage von Carmen Sand     

 

Die Sterntaler

Es war einmal ein kleines Mädchen, dem war Vater und Mutter gestorben, und es war so arm, dass es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr hatte, darin zu schlafen, und endlich gar nichts mehr als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte. Es war aber gut und fromm. Und weil es so von aller Welt verlassen war, ging es im Vertrauen auf den lieben Gott hinaus ins Feld.

 

Da begegnete ihm ein armer Mann, der sprach: "Ach, gib mir etwas zu essen, ich bin so hungrig." Es reichte ihm das ganze Stückchen Brot und sagte: "Gott segne dir's," und ging weiter. Da kam ein Kind, das jammerte und sprach: "Es friert mich so an meinem Kopfe, schenk mir etwas, womit ich ihn bedecken kann." Da tat es seine Mütze ab und gab sie ihm. Und als es noch eine Weile gegangen war, kam wieder ein Kind und hatte kein Leibchen an und fror: da gab es ihm seins; und noch weiter, da bat eins um ein Röcklein, das gab es auch von sich hin. Endlich gelangte es in einen Wald, und es war schon dunkel geworden, da kam noch eins und bat um ein Hemdlein, und das fromme Mädchen dachte: "Es ist dunkle Nacht, da sieht dich niemand, du kannst wohl dein Hemd weggeben," und zog das Hemd ab und gab es auch noch hin.

 

Und wie es so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel, und waren lauter blanke Taler; und ob es gleich sein Hemdlein weggegeben, so hatte es ein neues an, und das war vom allerfeinsten Linnen. Da sammelte es sich die Taler hinein und war reich für sein Lebtag.

 

Märchen der Brüder Grimm

 

Waldeinsamkeit

 

Ich hab in meinen Jugendtagen

Wohl auf dem Haupt einen Kranz getragen;

Die Blumen glänzten wunderbar,

Ein Zauber in dem Kranze war.

 

Der schöne Kranz gefiel wohl allen,

Doch der ihn trug, hat manchem mißfallen;

Ich floh den gelben Menschenneid

Ich floh in die grüne Waldeinsamkeit.

 

Im Wald, im Wald! da konnt ich führen

Ein freies Leben mit Geistern und Tieren;

Feen und Hochwild von stolzem Geweih,

Sie nahten sich mir ganz ohne Scheu.

 

Sie nahten sich mir ganz ohne Zagnis,

Sie wußten, das sei kein schreckliches Wagnis;

Daß ich kein Jäger, wußte das Reh,

Daß ich kein Vernunftmensch, wußte die Fee.

 

Von Feenbegünstigung plaudern nur Toren -

Doch wie die übrigen Honoratioren

Des Waldes mir huldreich gewesen, fürwahr,

Ich darf es bekennen offenbar.

 

Wie haben mich lieblich die Elfen umflattert!

Ein luftiges Völkchen! das plaudert und schnattert!

Ein bißchen stechend ist der Blick,

Verheißend ein süßes, doch tödliches Glück.

 

Ergötzten mich mit Maitanz und Maispiel,

Erzählten mir Hofgeschichten zum Beispiel:

Die skandalose Chronika

Der Königin Titania.

 

Saß ich am Bache, so tauchten und sprangen

Hervor aus der Flut, mit ihrem langen

Silberschleier und flatterndem Haar,

Die Wasserbacchanten, die Nixenschar.

 

Sie schlugen die Zither, sie spielten auf Geigen,

Das war der famose Nixenreigen;

Die Posituren, die Melodei,

War klingende, springende Raserei.

 

Jedoch zuzeiten waren sie minder

Tobsüchtig gelaunt, die schönen Kinder;

Zu meinen Füßen lagerten sie,

Das Köpfchen gestützt auf meinem Knie.

 

Tällerten, trillerten welsche Romanzen,

Zum Beispiel das Lied von den drei Pomeranzen,

Sangen auch wohl ein Lobgedicht

Auf mich und mein nobeles Menschengesicht.

 

Sie unterbrachen manchmal das Gesinge

Lautlachend, und frugen bedenkliche Dinge,

Zum Beispiel: »Sag uns, zu welchem Behuf

Der liebe Gott den Menschen schuf?

 

Hat eine unsterbliche Seele ein jeder

Von euch? Ist diese Seele von Leder

Oder von steifer Leinwand? Warum

Sind eure Leute meistens so dumm?«

 

Was ich zur Antwort gab, verhehle

Ich hier, doch meine unsterbliche Seele,

Glaubt mir's, ward nie davon verletzt,

Was eine kleine Nixe geschwätzt.

 

Anmutig und schalkhaft sind Nixen und Elfen;

Nicht so die Erdgeister, sie dienen und helfen

Treuherzig den Menschen. Ich liebte zumeist

Die, welche man Wichtelmännchen heißt.

 

Sie tragen Rotmäntelchen, lang und bauschig,

Die Miene ist ehrlich, doch bang und lauschig;

Ich ließ nicht merken, daß ich entdeckt,

Warum sie so ängstlich die Füße versteckt.

 

Sie haben nämlich Entenfüße

Und bilden sich ein, daß niemand es wisse.

Das ist eine tiefgeheime Wund',

Worüber ich nimmermehr spötteln kunnt.

 

Ach Himmel! wir alle, gleich jenen Zwergen,

Wir haben ja alle etwas zu verbergen

Kein Christenmensch, wähnen wir, hätte entdeckt,

Wo unser Entenfüßchen steckt.

 

Niemals verkehrt ich mit Salamandern,

Und über ihr Treiben erfuhr ich von andern

Waldgeistern sehr wenig. Sie huschten mir scheu

Des Nachts wie leuchtende Schatten vorbei.

 

Sind spindeldürre, von Kindeslänge,

Höschen und Wämschen anliegend enge,

Von Scharlachfarbe, goldgestickt;

Das Antlitz kränklich, vergilbt und bedrückt.

 

Ein güldnes Krönlein, gespickt mit Rubinen,

Trägt auf dem Köpfchen ein jeder von ihnen;

Ein jeder von ihnen bildet sich ein,

Ein absoluter König zu sein.

 

Daß sie im Feuer nicht verbrennen,

Ist freilich ein Kunststück, ich will es bekennen;

Jedoch der unentzündbare Wicht,

Ein wahrer Feuergeist ist er nicht.

 

Die klügsten Waldgeister sind die Alräunchen,

Langbärtige Männlein mit kurzen Beinchen,

Ein fingerlanges Greisengeschlecht;

Woher sie stammen, man weiß es nicht recht.

 

Wenn sie im Mondschein kopfüber purzeln,

Das mahnt bedenklich an Pissewurzeln;

Doch da sie mir nur Gutes getan,

So geht mich nichts ihr Ursprung an.

 

Sie lehrten mir kleine Hexereien,

Feuer besprechen, Vögel beschreien,

Auch pflücken in der Johannisnacht

Das Kräutlein, das unsichtbar macht.

 

Sie lehrten mich Sterne und Zeichen deuten,

Sattellos auf dem Winde reiten,

Auch Runensprüche, womit man ruft

Die Toten hervor aus ihrer Gruft.

 

Sie haben mir auch den Pfiff gelehrt,

Wie man den Vogel Specht betört

Und ihm die Springwurz abgewinnt,

Die anzeigt, wo Schätze verborgen sind.

 

Die Worte, die man beim Schätzegraben

Hinmurmelt, lehrten sie mich, sie haben

Mir alles expliziert - umsunst!

Hab nie begriffen die Schatzgräberkunst.

 

Wohl hatt ich derselben nicht nötig dermalen,

Ich brauchte wenig, und konnt es bezahlen,

Besaß auch in Spanien manch luftiges Schloß,

Wovon ich die Revenuen genoß.

 

Oh, schöne Zeit! wo voller Geigen

Der Himmel hing, wo Elfenreigen

Und Nixentanz und Koboldscherz

Umgaukelt mein märchentrunkenes Herz!

 

Oh, schöne Zeit! wo sich zu grünen

Triumphespforten zu wölben schienen

Die Bäume des Waldes - ich ging einher,

Bekränzt, als ob ich der Sieger wär!

 

Die schöne Zeit, sie ist verschlendert,

Und alles hat sich seitdem verändert,

Und ach! mir ist der Kranz geraubt,

Den ich getragen auf meinem Haupt.

 

Der Kranz ist mir vom Haupt genommen,

Ich weiß es nicht, wie es gekommen;

Doch seit der schöne Kranz mir fehlt,

Ist meine Seele wie entseelt.

 

Es glotzen mich an unheimlich blöde

Die Larven der Welt! Der Himmel ist öde,

Ein blauer Kirchhof, entgöttert und stumm.

Ich gehe gebückt im Wald herum.

 

Im Walde sind die Elfen verschwunden,

Jagdhörner hör ich, Gekläffe von Hunden;

Im Dickicht ist das Reh versteckt,

Das tränend seine Wunden leckt.

 

Wo sind die Alräunchen? Ich glaube, sie halten

Sich ängstlich verborgen in Felsenspalten.

Ihr kleinen Freunde, ich komme zurück,

Doch ohne Kranz und ohne Glück.

 

Wo ist die Fee mit dem langen Goldhaar,

Die erste Schönheit, die mir hold war?

Der Eichenbaum, worin sie gehaust,

Steht traurig entlaubt, vom Winde zerzaust.

 

Der Bach rauscht trostlos gleich dem Styxe;

Am einsamen Ufer sitzt eine Nixe,

Todblaß und stumm, wie 'n Bild von Stein,

Scheint tief in Kummer versunken zu sein.

 

Mitleidig tret ich zu ihr heran -

Da fährt sie auf und schaut mich an,

Und sie entflieht mit entsetzten Mienen,

Als sei ihr ein Gespenst erschienen.

 

Heinrich Heine

 

 

Die Mutter des Waldes   -   Eine Reise in die neue Zeit

 

Zu einer Zeit, die einst war, nun für immer vorbei ist und bald schon wiederkehrt, herrscht tiefer Frieden auf Mutter Erde. Die Menschen leben in kleinen Dorfgemeinschaften zusammen. Jedes Dorf hat seine Handwerker, seine Gärtner, seinen Bäcker, und was man sonst noch so wirklich braucht, vielleicht einen Lehrer für die Kinder… nein lieber nicht, das machen die Großmütter und Großväter, denn sie haben am meisten Erfahrung, sie können viel vom Leben erzählen. Und es gibt eine Schamanin oder einen Schamanen, vielleicht sogar beides. Was machen die?  Sie kümmern sich um das Wohlbefinden von Mutter Erde und all ihrer Bewohner. Und auf Mutter Erde leben unzählige Wesen:

Steinwesen, Pflanzenwesen, Tierwesen gibt es in Hülle und Fülle. Und auch viele Wesen, die früher einmal unsichtbar waren für manche Menschen, in der Zeit als die Menschen noch dabei waren, sich selbst zu finden, wie sie es gerne nannten. Heutzutage leben Feen, Elfen, und Pflanzendevas in inniger Verbundenheit mit den Menschenwesen. Es gibt viele Gelegenheiten zu lachen, zu feiern, zu tanzen… Und das lockt dann noch unzählige weitere Wesen an. Zwerge, Wichtel, Kobolde, Alraunen, Windgeister wie die Sylphen, Wasserbewohner wie Nixen, Wassermänner oder Meerjungfrauen. Der Clan der Feuergeister sorgt für Wärme und Gemütlichkeit.

In dieser Welt gibt es keine Autos, kein Fernsehen, keine Flugzeuge, kein Telefon. Wozu auch? Es gibt hier keine Langeweile.  Das Gänseblümchen philosophiert mit dem Frosch; der Fuchs mit dem Bären; die Kinder tanzen mit den Elfen durch die Wälder. Die Männer und Frauen lauschen den Geschichten der Bäume aus alten Zeiten. Jedes Kind weiß, wie es mit Kindern in fernen Regionen in Kontakt kommen kann. Es kann sich mit jedem Fluss, mit jedem See oder gar mit den Meeresbewohnern unterhalten. Es hat die natürliche Fähigkeit, mit dem Herzen sprechen und Botschaften zu empfangen. Freundschaften mit Walen, Delphinen und Seehunden sind besonders häufig anzutreffen. Denn Geschichten von anderen Sternen und Welten lieben die Kinder besonders.

Aber nicht nur sie.

In einem dieser beschaulichen Dörfer mit ihren Wassermühlen, ihren Pferden und Ochsen auf den Feldern lebt ein kleines freches und äußerst neugieriges Mädchen. Ihr Name ist Kalimah. Kalimah ist von früh bis spät auf den Beinen. Sie läuft durch Wiesen und Wälder und lauscht den wundersamen Geschichten der Baumriesen, den heiteren Anekdoten der Wiesenblumenfeen. Kalimah liebt es auch sehr, dem Murmeln der Bäche und Flüsse zu lauschen, die Geschichten von Lachsschwärmen oder allerlei anderen Bewohnern erzählen.  Im Rascheln der Blätter im Wind lassen sich die Ahninnen und Ahnen vernehmen. Was die zu erzählen haben ist für Kalimah oft schier unglaublich.  Sie pflegt auch die Freundschaft mit einem steinalten Felsen, der viele Geheimnisse kennt. Doch all ihre Freunde, die Geflügelten, die Gefiederten, die mit zwei oder vier oder noch viel mehr Beinchen, die Kriechenden, schlängelnden Wesen ebenso wie die Schwimmenden, niemand erzählt ihr von der Alten Zeit, in der die Menschen nicht mehr im Einklang mit Mutter Erde und sich selbst lebten. 

 

Doch das Unbekannte und Geheimnisvolle ist für Kalimah ganz besonders reizvoll. So beschließt sie, einen ganz besonderen Ausflug zu machen. Im Eichenwald lebt eine sehr alte Frau in einer einsamen Hütte. Sie ist schon unbeschreiblich lange hier. Niemand weiß, wie alt sie ist, und Kalimah hat gehört, sie würde auch immer wieder als junges Mädchen durch den Wald streifen. Sie kennt alle Wesen des Waldes, alle Kräuter und Blumen. Da sie jenseits von Zeit und Raum lebt, müsste sie eigentlich auch diese Alte Zeit kennen, überlegt Kalimah.  Sie erzählt ihren Freundinnen und Freunden von ihrem Vorhaben und so macht sich bald eine kunterbunte Kinderschar auf den Weg zur Mutter des Waldes, wie alle sie nennen. Sie werden freundlich empfangen. Nach einem stärkenden Mahl sitzen alle vor der Hütte und Kalimah spricht:

 „Liebe Mutter des Waldes, bitte erzähl uns von der Alten Zeit. Wie haben die Menschen damals gelebt?  Sie sollen etwas verrückt gewesen sein, und auch oft recht traurig. Viele sonderbare und geradezu unglaubliche Dinge sollen damals geschehen sein. Bitte, bitte erzähl uns von dieser Zeit!“

 „Meine lieben Kinder, das möchte ich gerne tun. Es ist wohl die unglaublichste Geschichte, die ich zu erzählen habe.“

Die Kinder rücken noch enger zusammen und halten fast den Atem an, um ja alles hören zu können. 

 

Die Waldfrau erzählt:

„Vor einiger Zeit lebten noch viel mehr Menschen auf unserem Heimatplaneten, Mutter Erde. Sie lebten sehr modern und hochtechnisiert. 

„Was bedeutet das?“, fragt ein Junge. „Die Menschen hatten viele Maschinen erfunden, die ihnen ihre Arbeit abnehmen sollten, auch flogen sie in sogenannten Flugzeugen durch die Luft und sie hatten viel Natur zerstört, um in sogenannten Autos durch die ganze Welt fahren zu können. Auch versuchten sie, so viel Besitz wie möglich anzusammeln.“ 

„Was sind Autos? Was sind Flugzeuge?“ wollen die Kinder wissen.

„Große Behältnisse, in denen sich Menschen zu Wasser, zu Lande und in der Luft fortbewegen konnten. Sie waren oft richtig eingepfercht und diese Maschinen zum Fortbewegen vergifteten den Lebensraum, in dem die Menschen lebten.“

 „Warum haben sie das nur getan? Wussten sie denn nicht, dass wir immer am richtigen Ort geboren werden und dass wir mit dem Geist überall hinreisen können?“

 

Die Mutter des Waldes antwortet:

„Das hatten die Menschen zu dieser Zeit völlig vergessen. Ja, sie waren wie besessen davon, ständig von einem Ort zum anderen zu reisen, so waren sie nur selten in der Lage, sich mit den Wesen eines Ortes überhaupt zu verbinden, sie verloren immer mehr jeglichen Kontakt zu den Naturwesen.“

 „Wie sah so ein Auto aus?“ will ein Junge mit großen staunenden Augen wissen.

 „Es war wie eine große Kiste mit Fenstern auf allen Seiten und Sitzen innendrin. Das ganze stand auf vier Rädern, wie auch bei unsren Fahrnissen für die Pferde. Das Ganze wurde von einem Motor angetrieben, der mit seinen Abgasen die Umwelt verpestete.“

 „In diesen Kisten sind die Menschen wirklich herumgefahren?“ Die Kinder können es kaum glauben.

 „Ja, aber nicht alle Menschen beherrschten das Fahren. Deswegen sind sie oft zusammengestoßen, oft fuhren sie auch viel zu schnell.“ erklärt die Waldfrau.

Die Kinder malen sich aus, wie dieses Leben in früherer Zeit wohl ausgesehen hat. Sie sehen vor ihrem inneren Auge die Menschen in diesen sogenannten Autos wild durcheinander herumfahren und immer wieder zusammenstoßen. Ihre Mienen entspannen sich und die ersten fangen zu kichern an. Bald gibt es kein Halten mehr, ein riesiges Gelächter geht durch die Reihen, die Kinder kugeln vor Heiterkeit auf dem Waldboden umher. 

 „Wollt ihr noch etwas Unglaubliches hören?“ fragt die Mutter des Waldes, verschmitzt lächelnd.

„Oh ja, bitte!“

 „Um miteinander sprechen zu können, erfanden die Menschen sogenannte Handys. Das waren kleine Apparate, in die sie hinein sprachen. Sie wurden sehr abhängig von diesen kleinen Apparaten und viele konnten bei Tag und bei Nacht nicht mehr ohne dieses Ding sein. Selbst wenn Menschen neben ihnen saßen, sprachen sie lieber mit ihren Apparaten.“

Und wieder purzelten die Kinder durcheinander vor Lachen und quietschten vor Vergnügen in der Vorstellung, wie ihre Vorfahren mit technischen Apparaten anstatt mit den Menschen in ihrer nächsten Umgebung sprachen.

 „Leider war es nicht wirklich so lustig. Auch diese Handys vergifteten mit ihren Strahlungen die Umwelt, alle Wesen litten enorm darunter. Aber auch daran gewöhnten sich viele Menschen und wollten die Wahrheit einfach nicht sehen.“

Die Kinder werden wieder still und nachdenklich.

 

 „Und was bedeutet Besitz?“ fragt ein Mädchen.

„Besitz bedeutet, dass etwas nur dir gehört, auch wenn du es vielleicht gar nicht brauchst. Nur du bestimmst über dieses Stück Natur, über Tiere, oder bestimmte Dinge.“

„Das hört sich gar nicht gut an“, meint Kalimah. „Mutter Natur mit all ihren Pflanzen und all ihrem Reichtum ist doch für uns alle da“. 

 

 „Ja.“, antwortet die Mutter des Waldes. 

„Vor sehr langer Zeit lebten die Menschen auch in großer Dankbarkeit und Respekt mit allen Geschöpfen auf Mutter Erde… doch dann wollten sie immer mächtiger werden. Da begann das „verrückte“ Zeitalter, wie wir es heute nennen. Die Menschen maßten sich an, Dinge, Pflanzen, Tiere und sogar Menschen zu besitzen. Sie begannen, gegeneinander zu kämpfen, ja gar, sich gegenseitig umzubringen. 

Und der große Geist ließ es geschehen, denn er hatte den Menschen einen freien Willen gegeben, um ihnen zu ermöglichen, Erfahrungen zu machen und daraus zu lernen. Und sie wollten unbedingt erleben, wie es ist, aus der Einheit und Verbundenheit mit Mutter Erde und all ihren Wesen zu fallen.  Es muss oft sehr schrecklich gewesen sein. Krieg und Hungersnot herrschten auf Erden. 

Stellt Euch nur vor, manche Menschen besaßen große Reichtümer, während viele andere Menschen täglich verhungern mussten.“ 

 

Einige Kinder fingen an zu weinen. „Deine Geschichte ist wirklich unglaublich“, murmelten sie betroffen. 

 

 „Manche Menschen erfanden Gesetze und zwangen andere, ihnen zu gehorchen. Das Leben wurde immer trauriger und armseliger. Aber viele Menschen merkten es gar nicht, denn sie wurden von den wenigen machtgierigen Menschen in einer Art Trance oder Dauerschlaf gehalten. Ihnen wurde täglich eingeredet, wie gut es ihnen doch ginge, wenn sie doch nur möglichst viel besitzen würden und alles tun würden, was man ihnen sagte.

Doch in Wahrheit verloren die Menschen ihre inneren Schätze. Ihre wahren Schätze, denn sie verlernten zu lieben, mit anderen Wesen mitzufühlen, anderen zuhören zu können, und den Respekt vor allem Lebendigen.  Sie trennten große Teile ihrer Seele von sich ab und verloren ihre natürliche Verwurzelung in Mutter Erde.  Auch die Botschaften von Vater Sonne konnten sie nicht mehr wahrnehmen.  Es ist kaum zu glauben. Täglich wurden unendlich viele Bäume gerodet, Bodenschätze ausgebeutet, Tiere getötet und Gewässer vergiftet. Die Luft zum Atmen war in vielen großen Städten schon völlig vergiftet. Viele Menschen wurden davon krank“. 

 

 „Was sind denn Städte?“ fragt ein Kind.  „Das sind Orte, wo sehr viele Menschen auf sehr engem Raum zusammenlebten. Es gab riesige Häuser mit vielen Stockwerken. Da hatten sie dann ihre kleinen Räume.“

  „Und keine Wiesen, Blumen und Gärten mit Gemüse um sie herum? Aber wie kann man so denn überhaupt leben?“ Die Kinder sind fassungslos.

 

Die Mutter des Waldes antwortete: „Wie gesagt, den Menschen wurde immer wieder erzählt, was glücklich macht und was nicht. Sie wurden immer unselbständiger, und viele von ihnen konnten irgendwann gar keine Verantwortung für ihr Leben mehr tragen.  Wenige machtgierige Menschen kontrollierten unzählige andere Menschen. Doch leider waren die meisten Menschen sehr verwirrt und konnten kaum mehr denken und fühlen, sodass sie einfach alles glaubten, was man ihnen vorsetzte. Und machte man ihnen ein bisschen Angst, so folgten sie allen noch so absurden Befehlen.“  

Betroffene Stille herrscht im Kreis der Kinder. Auch die Natur um sie herum mit all ihren Pflanzen- Tier- und Zauberwesen ist nun ganz still. 

 „Und was geschah dann?“ fragt Kalimah mit atemloser und zutiefst bewegter Stimme. 

  „Es wurde noch verrückter und absurder“, fuhr die Hüterin des Waldes fort.

 „Die Menschen, die sich selbst schon fast ganz verloren hatten, wurden immer machtgieriger. Sie dachten sich einen Plan aus, um völlige Kontrolle über die Menschen zu bekommen. Sie erzählten den Menschen, sie würden von einer gefährlichen Krankheit bedroht. Und so schafften sie es sogar, die Menschen dazu zu zwingen, sich gegen den Odem des Lebens zu schützen. Sie mussten Mund und Nase verhüllen und durften sich nicht mehr berühren. Sie wurden immer mehr vom Lebensquell, dem heiligen Atem des Lebens, getrennt.  Und stellt euch nur vor, viele Menschen durften einander nicht mehr umarmen, sie wurden immer mehr voneinander getrennt.“

 „Aber warum haben sich die Menschen das gefallen lassen???“  fragt ein Junge völlig fassungslos. 

 

 „Man machte ihnen Angst vor dem Tod, als müssten viele sterben, wenn sie keine Verhüllungen trugen. Die alten Menschen wurden von den Jüngeren weggesperrt. 

 

 „WAASS???  Man ließ die weisen Großmütter und Großväter allein?“

 

 „Ja. Sie wurden tatsächlich weggesperrt. Das war möglich, weil schon seit ewigen Zeiten die Angst vor dem Tode, vor dem Sterben kultiviert wurde.“  

 

„Die Menschen hatten wirklich Angst vor Bruder Tod???“ rief ein Mädchen aus.  „Das kann ich einfach nicht glauben. Es gibt doch keinen lieberen und besseren Freund als ihn. Was für eine große Freude ist es, mit Ihm zusammen zur rechten Zeit in Neue Welten und Daseinsformen zu wandern. Ich freu mich jetzt schon darauf, einst mit ihm auf die Reise gehen zu dürfen!“

 

Die weise junge und zugleich alte Hüterin des Waldes antwortete:

„Leider war es so. Die Menschen konnten sich nicht mehr an ihre Unsterblichkeit und ihre wahren Seelenaufgaben in ihrem Erdenleben erinnern. 

Doch zum Glück lebte zu dieser Zeit ein kleines Mädchen, und des Nachts kamen ganz besondere Träume zu ihm.

Wenn es eingeschlafen war, kam im Traum Mutter Erde zu ihm, in Gestalt einer jungen Frau. Diese Frau nahm das Mädchen behutsam in ihre Arme und wiegte es sanft. So geschah es für viele Nächte.

Dann träumte das Mädchen eines Nachts, Mutter Erde käme wieder zu ihr, doch diesmal war Mutter Erde das kleine Mädchen, und nun wollte Mutter Erde als Mädchen gehalten und gewiegt werden. Und so geschah es dann auch. Nun ging es in einem so fort. Eine Nacht hütete Mutter Erde das Mädchen im Schlaf, in der darauf folgenden Nacht wiegte das Mädchen den ganzen Planeten Erde in Gestalt eines kleinen Kindes in seinen Armen. 

 

Nach einiger Zeit sprach Mutter Erde eines Nachts zu dem kleinen Mädchen: 

„Mein liebes Kind, ich danke Dir sehr für Deine große Unterstützung.  Ich möchte Dir nun eine weitere Aufgabe anvertrauen. Wie Du weißt, sind die meisten Erdenbewohner sehr krank. Die Menschenwesen sind dabei, sich selbst auszurotten, und auch all die anderen Wesen, die zur Erdengemeinschaft gehören. Bitte forme eine Schale aus deinen Händen.“

Das tat das Mädchen und saß erwartungsvoll da. Mutter Erde, die noch immer die Gestalt eines kleinen Kindes hatte, wurde nun immer kleiner, bis sie schließlich die Größe einer kleinen Fee hatte. Sie kletterte in die Hände des Mädchens, legte sich hin und rollte sich genüsslich zusammen. Ich werde jetzt in einen tiefen Heilschlaf versinken und mich verwandeln.

Bitte hüte mich und teile mich mit allen anderen Kindern auf der ganzen Welt!“. 

So schlief Mutter Erde in der Gestalt eines kleinen Elfenkindes in den Händen des Mädchens ein. Dem Mädchen klopfte das Herz bis zum Hals, so aufgeregt und erfreut war es über diesen Anblick. Die Gestalt des kleinen Wesens verlor langsam seine Konturen und löste sich immer mehr auf. Nach einiger Zeit hatte es sich in eine goldene Kugel verwandelt. 

 

Das Mädchen behielt diese goldene Kugel für immer in ihren kleinen Händen. Es machte sich nun täglich auf, das goldene Licht, das von der Kugel ausging, mit möglichst vielen anderen Kindern zu teilen.  So wanderte das Licht allmählich um die ganze Welt. Zuerst merkten die Erwachsenen gar nichts davon, denn viele waren starr vor Angst. Andere wieder waren nur mit ihren Machtspielen beschäftigt, die immer grotesker wurden, sodass sie sich immer mehr vom Leben abtrennten. 

Es gab aber auch viele Menschen, die noch mit Mutter Erde und ihren Wesen verbunden waren. Täglich machten sie Zeremonien zur Heilung von Mutter Erde und all ihren Wesen. Diese Erwachsenen erkannten das Licht in den Händen der Kinder. Doch viele konnten es nicht annehmen, denn nur Menschen, die bereit waren, auch ihre Schattenseiten als Teil ihrer Selbst anzunehmen und zu leben, konnten das Licht der goldenen Kugel empfangen. So entstand ein großes Netzwerk aus goldenem Licht. Aus dem Licht bildeten sich unzählige goldene Lichtkugeln.

 

Die ganze Erde begann zu leuchten für alle, die sich dem Licht und der Dunkelheit stellen wollten und konnten. Für die Kinder war es ein Leichtes, denn in ihren unschuldigen Seelen war diese unheilvolle Trennung zwischen Licht und Dunkel noch nicht vollzogen worden. Und dieses Licht barg unendliche Liebe und Wärme in sich. 

Viele Menschen öffneten allmählich wieder ihre Herzen, um sich von dieser Geborgenheit, von dieser Wärme, dieser bedingungslosen Liebe zu sich selbst und allen Wesen durchströmen zu lassen. Es wurden immer mehr. 

Liebe, Einsicht und Erkenntnis begannen sich über alle Kontinente hinweg auszubreiten. Ein tiefes Seufzen ging durch alle Reihen und alle Menschen befreiten sich wie durch ein unsichtbares Zeichen zugleich von all den künstlich erzeugten Barrieren. Es geschah friedlich, ganz selbstverständlich. Die Menschen begannen wieder zu fühlen, frei zu denken und sich für ihre Wahrheit einzusetzen. Endlich wieder frei durchatmen. 

 

Heiliger Atem des Lebens, Du bist der unsichtbare Faden, der alle Wesen auf diesem Planeten mit dem großen Geist verbindet. 

 

Es war eine innere friedliche Revolution der Liebe. Die Menschen, die sich nicht auf diesen Weg begeben wollten, zogen sich zurück in die Gefilde, die für sie anziehend waren.  Und die vielen kleinen Lichtkugeln verschmolzen zu einer großen. Mutter Erde wurde buchstäblich neu geboren. Es waren keine neuen Führer notwendig, denn jede, jeder Einzelne besann sich auf die Urgesetze des Lebens.

 

Geben und Nehmen im Einklang mit Mutter Erde.

Und so begann die Neue Zeit!“

 

Die Augen der Kinder leuchten. 

 „Nun ist es doch noch eine glückliche Geschichte geworden! Wir wollen sie gleich allen anderen Kindern erzählen!“, ruft ein Mädchen aus und springt auf, um sich auf den Weg zu machen. 

„Aber, ob uns die anderen die Geschichte unserer Vorfahren überhaupt glauben werden… Wie ist es möglich, so viel Unsinn zu machen? Anderen Wesen so viel Leid zuzufügen?“ meint ein Junge. 

Doch die anderen Kinder rufen wie aus einem Munde:

„Kommt! Wir wollen es allen erzählen, damit wir selbst nicht eines Tages womöglich die gleichen Irrtümer begehen werden“. 

Die Kinder bedanken sich und laufen fröhlich singend durch den Wald.

Nur Kalimah sitzt noch auf ihrem Platz. Sie erhebt sich und nähert sich nachdenklich der Mutter des Waldes. 

 

 „Ehrwürdige Mutter, darf ich Dich etwas fragen? 

Ich glaube, dieses Mädchen aus der Alten Zeit, das Mutter Erde in ihrem Schoss gewiegt hat, und das die goldene Kugel über alle Länder und Meere getragen hat, nun ja, das warst Du, nicht wahr?“

Die Mutter des Waldes sieht Kalimah mit gütigen Augen an und lächelt vielsagend. Dann hebt sie Kalimah auf ihren Schoss und beginnt sie zu wiegen.  

Kalimah schläft friedlich ein in den Armen der Mutter des Waldes, 

 

die auch Princesa encanta mundo genannt wird 

oder die Weiße Büffelkalbfrau.

 

 

verfasst von Carmen Sand, April/Mai 2020, in Landshut und Starnberg